Vor über einem Jahr war ich zum ersten Mal in Buenos Aires. Damals hielt ich meine Eindrücke in meinem allerersten Travelblog fest. Dieses Mal sehe ich die Stadt mit erfahreneren Augen und vor allem mit mehr Zeit.
Beim ersten Mal war ich überwältigt und überfordert von Buenos Aires, da ich noch keine Erfahrung mit südamerikanischen Städten hatte. Aus irgendeinem Grunde bezeichnete ich die Straßen und das Zentrum von Argentiniens Hauptstadt als „nicht wirklich aufgeräumt“ und betonte, dass sie „in meinen Augen riesig“ sei. Dieses Mal sehe ich BA mit anderen Augen. Nachdem ich Barranquilla, Bogotá, Quito und Lima erleben durfte, wirkt es hier im Vergleich wirklich sehr aufgeräumt, sehr europäisch.
Anscheinend musste ich erst wiederkommen, um mich so richtig in Buenos Aires zu verlieben. Erst jetzt beim zweiten Mal verbringe ich Stunden damit, mich durch das aufgewühlte Zentrum treiben zu lassen, die Museen zu erkunden und die Stadt richtig auf mich wirken zu lassen. Die tiefen Schluchten zwischen den Häusern haben etwas Bedrohliches, vor allem wenn ein Stadtbus mit 50km/h und am Bürgersteig entlangschrammenden Reifen an einem vorbeischiesst, aber auch etwas Magisches, wenn sie nachts spärlich beleuchtet und menschenleer daliegen.
Ich erleben die Melancholie Buenos Aires, die vor allem in einem offensichtlichen Reichtum und dem kompletten Gegensatz besteht. Nur 100m von der „Casa Rosada“, dem prunkvollen Präsidentenpalast entfernt, schlafen Obdachlose auf klammen Schaumstofffetzen und unter Wolldecken. Es ist erst Frühling und die Nächte sind noch immer kalt. In den schicken Vierteln Palermo und Recoleta oder im alternativeren San Telmo lassen sich Argentinier wie Touristen saftige Steaks und leckere Weine schmecken, während sich Müllsammler im Nieselregen bemühen, ihre Karren durch die mit Kopfstein gepflasterten Straßen zu schieben. Ich habe hier in Südamerika schon viele Gegensätze erlebt, doch Buenos Aires ist anders. Während in Kolumbien zwischen Arm und Reich immer auch eine geographische Trennung bestand, ist die argentinische Hauptstadt ein vielseitiger Meltingpot – schon immer gewesen.
Schön melancholisch: Tango
Um Buenos Aires zu erleben, sollte man sich ein bisschen mit dem Tango beschäftigen. Nicht zu empfehlen sind allerdings die vielen touristischen Cena Shows, die man auf der Straße und in den Hostels immer wieder angeboten bekommt. Lieber besucht man abends eine „Milonga“, einen traditionellen Tangoschuppen. Der Eintritt ist erschwinglich und Anfänger bekommen die ersten beiden Stunden eine kleine Tangoeinweisung. Es wird erklärt woher der Tanz kommt und wozu er dient. Die Wurzeln des Tango sind traurig und schön zugleich.
Der Tanz stammt aus den Arbeitervierteln von Buenos Aires. Das Leben in La Boca und ähnlichen Vierteln im 18. Und 19. Jahrhundert war nicht einfach. Man war gezwungen, auf sehr engem Raum zusammen zu leben. Auf Grund einer Epidemie hatten die meisten reicheren Familien diese Viertel verlassen und sich in Recoleta, damals außerhalb der Stadt, neue Villen im französischen Stil gebaut. Sie ließen riesige Häuser zurück und vermieteten sie an die Arbeiterklasse. Eine Familie konnte sich hier aber nicht einmal die Miete für nur einen Raum leisten und so entstanden zwangsweise riesige Wohngemeinschaften, in denen teilweise sogar Betten einfach für acht Stunden vermietet wurden.
Die Arbeiterklasse in Buenos Aires kam aus den verschiedensten Ländern Europas und aus der ganzen Welt. Trotzdem hatte man das Bedürfnis sich nahe zu sein, neue Leute kennen zu lernen und natürlich zu tanzen. Der Tango entstand aus diesen schwierigen Umständen. Die Basis ist eigentlich nur das Gehen, miteinander, verbunden in der Umarmung. Es ist gar nicht so schwer, zusammen über die Tanzfläche zu laufen. Es dauert einen kleinen Moment, aber mit ein bisschen Vertrauen schafft man es schnell, sich nicht auf die Füße zu steigen. Auch Richtungswechsel und Kehren werden natürlich vollzogen. Kleine Gewichtsverlagerungen, ein zögern im Schritt zeigen Wechsel an und es dauert nicht lange, bis man unbewusst auf der Tanzfläche kommuniziert. Natürlich gehört zum Profi – Tango noch viel mehr, doch diese Grundidee und die Entstehung des Tango aus einer Notwendigkeit und einem Verlangen nach Nähe, sind melancholisch – schöne Gedanken.
Militärdiktatur und Vernichtung
Für jeden, der sich ein wenig für die jüngere Geschichte Argentiniens interessiert, habe ich noch einen Tipp, der sonst vielleicht etwas unter dem Touristenradar fliegt. Um ein wenig über die letzte Militärdiktatur und ihre Schrecken zu erfahren sollte man unbedingt den „Espacio Memoria y Derechos Humanos“ in der ehemaligen „Escuela de Mecánica de la Armada (ESMA)“ besuchen. Auf dem Gelände, das in den 70er Jahren vor allem von

Kadetten der Marine bevölkert wurde, steht auch ein Gebäude, in dem Früher vom Militär entführte Oppositionelle festgehalten, befragt, gefoltert und beseitigt wurden. Die weltberühmten „Madres de Plaza de Mayo“ suchen noch immer nach ihren verschwundenen Kindern und sogar nach Enkeln, die dort in Gefangenschaft zur Welt gekommen sein müssen.
Das Militär hielt die „Desaparecidos“ also Verschwundene, wie die Opfer der Militärdiktatur genannt werden, im Offizierscasino fest. Im obersten Stock des Gebäudes kann man heute die Räume besichtigen, in denen Gefangene damals entgegen aller Menschenrechte festgehalten wurden. Sie mussten die ganze Zeit Kapuzen tragen und hatten gerade mal eine kleine Matratze. Später wurden sogar Nischen (70cm auf zwei Meter) gebaut, um den Gefangenen den Kontakt zueinander zu erschweren. Nicht nur hinter den Entführungen von Oppositionellen, sondern auch hinter deren Befragung und schließlich hinter deren Beseitigung, stand ein schreckliches System. Knapp 5000 Menschen verschwanden und starben zwischen 1976 und 1983. Der Terror ging vom ESMA und den dort sitzenden Offizieren aus.
Die Beseitigung der Oppositionellen in der ESMA folgte einer grausamen Praxis. Den Gefangenen wurde gesagt, dass sie in ein anderes Gefängnis, gar ein Rehabilitierungszentrum gebracht würden. „Reubicaciones“ hieß der Weg in Hand und Fußschellen. Über mehrere Treppen ging es in den Keller, den auch Besucher heute noch besichtigen können. Nicht nur beim Anblick den engen Folterkammern, sondern auch bei dem Gedanken daran, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit hier stattgefunden haben, läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken. In diesem dunklen, kalten Keller bekamen die „Desaparecidos“, die meisten von ihnen damals zwischen 20 und 30 Jahre alt, eine Injektion. Ein Sedativum. Anschließend verfrachteten Wärter die Gefangenen in ein Flugzeug. Die Flüge, die von einem nahegelegenen Militärflughafen starteten, sind heute als „Vuelos de Muerte“, also Todesflüge bekannt. Grausam effizient wurden die Betäubten über dem Rio de la Plata oder dem Atlantik aus der Maschine geworfen. Unzählige Leichen tauchten während dieser Zeit an der Küste von Uruguay oder in den Häfen der Provinz Buenos Aires auf.
Nachdem man den Schrecken der damaligen Zeit nachvollzogen hat, erlebt man den letzten Raum der Ausstellung sehr intensiv. Eine multimediale Präsentation zeigt die Verantwortlichen für die Vernichtungspraxis. Erst ihre Lebensläufe, zusammen mit dem offiziellen Foto in Uniform, anschließend die Strafen, die die meisten von ihnen erhalten haben, in Verbindung mit einem Portrait aus dem Gerichtssaal. Einige Verfahren gegen Militärs aus der Diktatur laufen noch immer. Die Urteile hier habe weniger symbolische Kraft, als die aktuellen NS – Urteile in Deutschland. Sie sind realer. Hier in Argentinien sind die meisten Angeklagten noch nicht zu alt und gebrechlich, um ernsthaft einem Richter vorgeführt zu werden. Die meisten sitzen lange Gefängnisstrafen ab.