Lesestunde: „Opfer“ von Jesper Wung-Sung

Jugendliche in Quarantäne, in einer Grenzsituation. Zugegeben keine neue Thematik, aber in diesem Buch so fesselnd und poetisch umgesetzt, dass ich für „Opfer – Lasst uns hier raus“ von Jesper Wung-Sung einfach eine Lanze brechen muss.

Jesper Wung-Sung hat mit „Opfer – Lasst uns hier raus!“ einen Roman geschrieben, der einen von der ersten Seite an in seinen Bann zieht. Die Ausgangssituation ist eine kleine Schule in einem ländlichen Gebiet in Dänemark. Eine Epidemie bricht aus und Protagonist Benjamin findet sich zusammen mit seinen Klassenkameraden, den Lehrern und seinem Vater dem Direktor, in einem Realität gewordenen Alptraum wieder. Die Schule wird unter Quarantäne gestellt, ein Zaun wird um das Gelände gezogen und eine Drohne, bestückt mit scharfer Munition, schwebt wie „ein Raubvogel, der geduldig auf seine Beute wartet“, über dem Gelände. Die Situation wird richtig bedrohlich, als ein Hubschrauber über das Gelände fliegt und eine Kiste abwirft. Darin: Etwas Verpflegung, Medikamente und Leichensäcke, an denen ein Zettel klebt: „Beerdigt eure Toten.“

Die Epidemie nimmt ihren grausamen Lauf und immer mehr Lehrer und Schüler müssen auf dem Sportplatz beerdigt werden. Mit der Zeit erwischt es auch die Menschen, die Benjamin am nächsten standen. Jesper Wung-Sung zeichnet ein Szenario, das eigentlich auch für den Leser kaum erträglich ist. Und trotzdem lässt einen „Opfer“ von der ersten bis zur letzten Seite nicht los. Die Schule versinkt in einem jugendlich-anarchistischen Chaos, es bilden sich verfeindete Fraktionen und Stellenweise wirkt die Erzählung wie eine Fallstudie. Das macht die grausame Story für den Leser erträglich. Viele Szenen sind allerdings auch ruhiger und gefühlvoller erzählt. Die kurzen Momente der Hoffnung, der Zuneigung und des Vertrauens treffen den Leser fast tiefer, als die Tragik des Stücks.

Ein Schauer läuft dem Leser über den Rücken, wenn er miterleben muss, wie die ganze Schule bei jeder Beerdigung singt. Oder wie Benjamin zusammen mit seiner Freundin Kate auf dem Dach der Turnhalle steht und sie in die Ferne schauen. Diese starken und anrührenden Momente machen die grausame Geschichte erträglich und lesenswert. Hinzu kommt das Motiv der Hitze, dass sich durch das ganze Buch zieht und unwirklich flimmernde Bilder entstehen lässt. Schon der erste Satz erzeugt diese Grundstimmung: „Das Ziegeldach der Schule wellte sich wie Siegelwachs und der Sportplatz hinter dem Backsteinbau glich einem Stoppelfeld aus gelbem Graß.“

Die Philosophie der Verzweiflung

Jesper Wung-Sung erzählt auf 200 Seiten mehr, als viele andere Autoren in einer Trilogie. Manche Kapitel bestehen nur aus einem Satz, einer Frage oder einer Liste. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sind immer greifbar, aber nicht quälend und das offene Ende, bietet kaum Erlösung, passt aber ins Bild. Auf dem Weg dorthin stellt der Autor viele philosophische und ethische Fragen. Wenn Elias vor seinen Jüngern predigt: „Es gibt keine Nächstenlieben oder Empathie! Es gibt nur Begierde und Egoismus! Und weil wir das nicht erkennen geht es uns schlecht!“ Katastrophen-Objektivismus könnte man diese Art zu denken nennen. Elias als einer der Führer von zwei Fraktionen, die sich nach dem Tod aller Erwachsener bilden, stellt die grausame Frage: „Gibt es da draußen jemanden der an uns denkt? Nein!“

Auch existenzialistische Fragen stellt das Buch. Im Streit mit Liam, dem selbsternannten Anführer der zweiten Gruppe, fragt Elias: „Bist du echt Liam? Das ist ein mechanischer Vogel, natürlich, aber er hat eigenes Leben bekommen. Er hat Bedeutung. Hast du auch Bedeutung, Liam?“ Gedankengänge, die im Angesicht der Katastrophe durchaus berechtigt sind. Die Grenzen zwischen dem was real und was erträglich ist, sind in der Landschule schon lange verschwommen und Bedeutung hat in Elias Augen eigentlich nichts mehr. Vom Existenzialismus zu Nihilismus in wenigen Seiten. Von der Frage nach der Bedeutung des Lebens unter Quarantäne sind Elias und seine Anhänger zu einem schrecklichen Schluss gekommen. Das Leben ist so fragil, so schnell zu Ende, dass sie selbst die Kontrolle übernehmen wollen. So beginnt die Gruppe, ritualisierten Selbstmord zu begehen. Sich von dem metallenen Raubvogel, der über ihr Leben bestimmt, erschießen zu lassen.

Sowohl Elias, als auch Liam ergeben sich irgendwann dem Druck der Hoffnungslosigkeit, der Verzweiflung. Gefühle, die auch Benjamin und Kate spüren, die sie zu überwältigen drohen. Doch die beiden machen weiter. So lange es noch einen Kranken zu pflegen gibt, so lange sie Leid noch lindern können, ist ihr Leben noch etwas wert. So stellt sich Jesper Wung-Sung in „Opfer – Lasst uns hier raus!“ gegen den Objektivismus, gegen die Grausamkeit des Existenzialismus. Die beiden halten Menschlichkeit und Empathie aufrecht. Werte, die sich selbst im Angesicht der Katastrophe noch als mächtig herausstellen werden.

Appell für Menschlichkeit

Wer sich auf Jesper Wung-Sungs Werk einlässt, atmet am Ende sicherlich erstmal tief durch, aber auch auf. Viele Stimmen schreien nach einer Erklärung, einer kompletten Auflösung der vielen Fragen, die der Roman stellt. Antworten werden kaum geliefert, sind aber auch nicht notwendig. Die Geschichte beschäftigt den Leser noch weit über 200 Seiten hinaus. Die Frage: „Wie würdest du handeln?“ steht die ganze Zeit rot im Subtext. Mit diesem Werk will der Autor sicherlich nicht unterhalten. „Opfer – Lasst uns hier raus!“ regt zum Nachdenken an. Und ist gleichzeitig ein Appell für die Menschlichkeit. Ein poetisches, anrührendes und lesenswertes Buch!